Proverbs for Paranoids, 3: If they can get you asking the wrong questions, they don’t have to worry about answers.

Radausflug nach Italien

Es ist also wieder mal so weit, das kleine Orchester im Kopf spielt Henry Purcell. Da es das nur an zwei Orten tut und ich definitiv nicht auf dem Krönungsstuhl in der Westminster Abbey auf den Erzbischof warte, sitze ich also auf einem Fahrrad und krieche einen Berg rauf.

Bumm – bumm, bumm – bumm.

Music for the Funeral of Queen Mary. „Verdammte Monarchisten!“, schießt es mir durch den Kopf. Und ein herzliches Danke an die Tiroler Kaiser Jäger (sic!), die die Straße, die ich mich da raufquäle, knapp vor dem Ersten Weltkrieg in die Bergwand geklopft haben. Meine Beine treten im Rhythmus der Pauken, mein Atem folgt den Bläsern, lange, tiefe Züge, ein bisschen Keuchen, dann entschlossenes Pusten. Da, die Chöre, der Gipfel naht. „Griaß enk Gott!“, salutiere ich leicht illuminiert der Informationstafel auf der Passhöhe des Monte Rovere.

Aber halt, zurück zum Anfang – bevor ich überhaupt losgefahren bin.

Theoretisch gründlich, praktisch aktionistisch, aber jedenfalls hoch motiviert lief die Vorbereitungsphase. Es gab Trainingseinheiten auf Rolle und im Wienerwald, ein Kiebitzwochenende bei La Doyenne in Belgien, das den Trainingsplan kurz irritierte, und natürlich auch Grundlagenforschung in Form von Italowestern, Radfahrerbiografien, Kulturgeschichten und einigen Klassikern über Italien. Ohne lange zu fackeln, griff ich gleich mal beherzt zum Inbegriff der gepflegten Langeweile, Goethes Italienischer Reise.

Das ist für die ganz Hartgesottenen, die auch die neuen Superman-Filme unterhaltsam finden – oder sich bei Béla Tarr amüsieren. Für mich waren die Reiseaufzeichnungen des Pedantenfürsten jedenfalls zu langweilig, prätentiös und selbstgefällig. Ich habe es vorgezogen, ein paar Extraeinheiten auf dem Heimtrainer zu absolvieren und mir danach zur Stärkung ein Bier und einen Spaghettifilm reinzuzischen – das war erquicklicher, wie mir wohl sogar Goethes unbedarfter Kumpel Kniep beigepflichtet hätte.

Laurence Sternes Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Der kam leider nur bis Frankreich. Sein Roman Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman ist jedoch so nebenbei für mich eines der umwerfendsten Bücher überhaupt. Sind Pynchon und die Postmoderne ohne Sterne überhaupt denkbar?

Dann gab es da die anderen Klassiker der britischen Reiseliteratur wie John Evelyn, Gilbert Burnet oder Thomas Coryate. Irgendwie störte mich deren „patronizing attitude“, die wohl zum guten Ton gehört. Das zieht sich übrigens bis zur wirklich lesenswerten Kulturgeschichte Auf der Suche nach Italien von David Gilmour durch.

Bleibt mein sentimentaler Favorit: Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Großartig! Von Anfang an tornistert man mit J. G. mit, man lacht über sture österreichische Beamte, völlert in Slowenien und erkundet Italien mit offenem Herzen und offenen Augen.

La strada per Cortina

Rein nach Italien also, von Lienz über Innichen, vorbei am Stift und dem von den Faschisten errichteten (nicht nur umstrittenen, sondern auch hässlichen) Beinhaus, nach Toblach. Nun wird’s etwas steiler, rauf den „Langen Weg der Dolomiten“ zum Cimabanche (1.530 m), von wo es dann bergab Richtung Cortina geht. Der Ritt in die Parallelwelt beginnt, ich mühe mich den zarten Anstieg hoch und fühle mich ob der Last des Rucksacks wie Django, der seinen Sarg über die Dolomiten zerren muss. Die Abfahrt danach ist schmerzlindernder und euphorisierender als eine Rückenmassage von Claudia Cardinale (na ja, fast): Auf der alten Bahntrasse geht es runter – ich fliege über Brücken und brause durch Tunnels, vorbei an alten Bahnstationen; Regenwolken im Rücken und einen eisigen Wind im Gesicht –, hinein ins Pelz-und-Rolex-Eldorado. Mit einem Lächeln im Gesicht reite ich in Cortina d’Ampezzo ein.

Und die Stadt zeigt sich gleich mal von ihrer namensgebenden Seite: eine Stimmung wie auf einem Friedhof – Dirty City revisited. Wolken, Nieselregen, ein bisschen Nebel und viel Leere. Nebensaison, null menschliches Leben in den Gassen und – horribile dictu – nirgends etwas zum Essen. Eine Dystopie der Liederlichkeit, in der sich der leere Schein der Vanitas im Nichts auflöst. Zum Glück kann ich immerhin der Versuchung widerstehen, ein Holzkreuz in die verwaisten Stellflächen des Busbahnhofes zu rammen.

Cortina

Wohin mit dem Holzkreuz? Urlaubsstimmung in Cortina d’Ampezzo.

Aber zunächst kommt sowieso die Pflicht: Jugend forscht! Also rein in so eine Touristeninformation und nach Sergio Corbucci gefragt, der in Cortina nicht nur zwei seiner großen Italowestern drehte – Il grande silenzio (1968) und Gli specialisti (1969) –, sondern hier auch den einen oder anderen Skiurlaub verbrachte. „Perdono? Sergio Capucci?“, lautet die verwunderte Entgegnung auf meine Frage nach dem Maestro. Was soll man da sagen, zumal auf Italienisch? „Dio perdona, io no!“, schien mir zwar passend, jedoch zog die Signora hinter dem Tresen ihren Colt schneller: „Hat er mit ladinischer Kunst zu tun? Dafür gibt es ein Museum – hat aber in der Nebensaison geschlossen“, werde ich überrumpelt. Schreckensstarr erbleiche ich, die Worte schmerzen! Requiem per un gringo … unverrichteter Dinge muss ich also weiterziehen.

Eine Pizza (mit dem feist grinsenden Silvio B. an der Saloonwand) und eine Nacht später folge ich meiner inneren Stimme: „Monta in sella, figlio di …!“ In den Nebel fluchend, reite ich aus der Stadt, rüber nach St. Kassian.

Zu Gast beim Giro d’Italia

Wo der Giro ist, ist die Welt rosa. Luftballons, Fahrräder, Girlanden, Fähnchen, Bäume – alles rosa. Nur nicht meine Unterkunft in Seis. Die wird von Gelb dominiert, von kolumbianischem Gelb. „¡Hola!“, schallt es mir gleich entgegen, als ich das Grundstück betrete. Vor der Garage wird gegrillt, kolumbianische Radsportfans feiern: Esteban Chaves hat die Etappe nach Corvara gewonnen – da ist es auch schon fast egal, dass man es zwar von Kolumbien nach Südtirol geschafft hat, aber dann zu spät von Seis Richtung Grödner Joch aufbrach, die Straße rüber ins nächste Tal war schon gesperrt. So konnten sie den Triumph ihres Landsmanns nur im Fernsehen verfolgen. Egal, Sieg ist Sieg, und am nächsten Tag gibt es ja ohnedies noch das Zeitfahren auf die Seiser Alm. Und da werden nicht nur die Kolumbianer, sondern auch ich dabei sein. Ich stoße mit ihnen an und höre mir ihre Geschichten an: Jesús David arbeitet in Spanien, heiratet endlich seine Luisa Fernanda, weshalb die halbe Familie nach Europa gekommen ist; jetzt sind sie in guter, alter amerikanischer Tradition auf einem Europatrip, in zehn Tagen von Madrid über Stockholm nach Athen, von dort über Rom und Paris zurück nach Spanien, inklusive Giro. Prost und gute Nacht.

22. Mai 2016: Zeitfahren auf die Seiser Alm. Insgesamt ist der Anstieg neun Kilometer lang und im Schnitt 8,3 Prozent steil, 750 Höhenmeter sind zu überwinden. Gemächlich beginne ich mich in den Anstieg hineinzukurbeln, vorbei an Campern und einem rüstigen Alleinunterhalter, der, versteckt zwischen Bussen und Reisemobilen, „A Whiter Shade of Pale“ in der italienischen Version von Dik Dik intoniert. Ich bin unangenehm berührt, bleibe aber trotzdem kurz stehen – gebe mich der Faszination des menschlichen Abgrunds hin. „Sie haben schon Stil-o, diese Italiener.“ Guardo lassù la notte … Ich fahre dann doch weiter. Da passiert auf einmal das Ungeheuerliche: Die Menschen am Straßenrand beginnen zu applaudieren – ich bin gerührt. Rechtzeitig, bevor ich meine Gönnermiene aufsetze und die Hand zum salbenden Gruß erhebe, behauptet sich doch der Raunzer in mir, um zu ahnen, dass das Klatschen schwerlich mir gelten kann. Während ich also noch stutze, werde ich von einem Auto überholt. „Verdammt! Sollte die Straße nicht für den motorisierten Verkehr gesperrt sein?!“, ärgere ich mich, will kurz schimpfen, da ziehen auch schon ein paar Radler mit grünen Dressen mühe- und schwerelos an mir vorbei. „Grundgütiger, das waren die Typen von Cannondale!“ Nun geht es Schlag auf Schlag. Immer mehr Profis lassen mich ganz schön alt aussehen. Ich bin sprachlos und nur ein wenig beleidigt ob der Leichtigkeit, mit der sie das tun. Und das ist ja nur ihr lockeres Einfahren! Schließlich der Höhepunkt: Ich sehe einen hellblauen Wagen, das kann nur eines bedeuten – „lo squalo“. Ich werde nun tatsächlich von Vincenzo Nibali überholt. Ich fühle mich wie ein junges Ding, das von Robbie Williams (als er noch etwas ansehnlicher war) auf eine Kissenschlacht eingeladen wird. Da geht der Puls schon mal ein paar Takte extra in die Höhe. Autogrammjagd ist allerdings zwecklos – soll ich dem „Hai von Messina“ etwa mit meinem Mountainbike hinterherjagen? Oben gibt’s dann immerhin ein Beruhigungsbier.

Vincenzo Nibali

Der Hai greift an: von „lo squalo“ überholt.

Freuds Hotel

Nach den Tagen beim und mit dem Giro trennen sich unsere Wege, und ich fahre weiter gen Süden. Von Trento rauf nach Lavarone. Mitten auf der Hochebene, am Seeufer des winzigen gleichnamigen „lago“, liegt das Hôtel du lac. War es früher Sigmund Freuds „bevorzugter Sommerwohnsitz“ (so die selbstbewusste Eigenwerbung), ist es jetzt eine Mischung aus Hotel New Hampshire, La Cage aux folles und Grand Budapest Hotel – Wes Anderson hätte hier jedenfalls eine Gaudi. Und ich hatte für die nächsten Tage eine Unterkunft.

Passend und eigentlich klar, dass ich hier zum ersten Mal während meiner Tour „Per Elisa“ von Alice höre. Sie, die die erste Projektion meiner männlichen Fantasien initiierte, das erste große Staunen erregte – diese Augen, diese Lippen und diese Haare; was soll das? Die Fragen, die dem jungen Bürschchen damals gestellt wurden, kann auch der alte Mann noch nicht wirklich beantworten.

Na, jedenfalls betrete ich mit dieser Auftrittsmusik im Hintergrund den Speisesaal des Seehotels Lavarone. Ich habe mich bereits daran gewöhnt, auch hier nix los. Von den sicher fünfzig Tischen sind sechs besetzt. Drei werden von Pensionisten belegt, an einem sitzt ein Paar mit seinem wohl zwölfjährigen Sohn – ob den dieselben Fragen quälen wie mich damals? –, am nächsten schwadronieren zwei Wanderinnen aus Sachsen (wenn ich den Dialekt richtig zuordne), Deutsche sind sie allesamt, und am sechsten Tisch moi. Es ist mir unmöglich, mir ein Lächeln zu verkneifen.

Lavarone

Hôtel du lac Lavarone: Es prickelt.

Um die etwas steife Atmosphäre ein wenig aufzulockern, betritt aber nun der Kellner die Bühne – und für ihn ist dieser Speisesaal wohl tatsächlich seine Bühne. Fein herausgeputzt mit einem hübschen Schürzchen, macht er sich daran, die Gäste zu bedienen. Immer ein extra Dankeschön auf den Lippen – wo er eigentlich „Gerne!“ meint –, tanzt er durch den Saal. Seine Miene ist heiter, seine Laune sonnig. Ich mag diesen gleichzeitig exaltierten und doch schüchternen Kerl.

Nach dem Essen dann ein kurzer Moment der Langeweile, der Schwäche. Fast mache ich einen Unsinn und spreche die beiden sächsischen Wanderinnen an. Gott sei Dank kann ich aber widerstehen und verlasse den Speisesaal. Beim Rausgehen höre ich noch, wie eine der Pensionistinnen etwas zu laut dahinschmilzt: „Du bist immer so heißblütig, Jörg.“ Ich ziehe mich schnurstracks auf mein Zimmer zurück – Freud smiles. Und schenkt mir dann auch gleich noch süße Träume. Alexandra von Wolff-Stomersee liest mir aus dem Gattopardo vor, verwandelt sich zunächst in einen Werwolf und dann in Giuseppe Tomasi di Lampedusa, der mich mit seinem Spazierstock traktiert. Irritiert wache ich auf.

Und wanke zum Frühstück. Hier erwartet mich bereits ein erster Gutenmorgengruß in Form eines selbst gebastelten Papierherzens, sorgfältig beschriftet und mit Datum versehen. Kaum sitze ich, haucht mir eine vertraute Stimme auch schon „Danke schön!“ ins Ohr. Ich blicke auf, über das Schürzchen hoch in die strahlenden Augen des Kellners.

Guten Morgen

Buongiorno!

It’s fetish time, und zwar für meinen ganz speziellen: Festungen! Der wurde mir – als gebürtigem Salzburger – quasi in die Wiege gelegt. Schon als Kind dachte ich beim Bestreichen von Kasematten nicht mehr an Malbücher und beim Kehlkoffer nicht an exotische Reiseutensilien. Und hier gibt es nun tatsächlich eine Mountainbiketour, die sich den Festungsanlagen des Ersten Weltkriegs widmet, die „100 km dei forti“. Zu so einem Anlass meint es das Schicksal natürlich doppelt gut, die Sonne lacht und strahlt mit mir. Neben einem Befehlsstand mitten im Wald und den anderen Anlagen ist das Werk Gschwent (Forte Belvedere) der Höhepunkt der Runde – die gruselige Schön- und Erhabenheit der Anlage überstrahlt die Gräuel und Niederträchtigkeit, denen sie diente.

Ich halte inne und fahre zurück ins Hotel.

Am nächsten Tag geht es weiter: Salò – inklusive Übernachtung in einer Truckerbude, in der es allerdings die bis dahin beste Pasta gibt –, dann Mantua und schließlich Ferrara. Ferrara also.

Memento furioso

Ich erreichte den Stadtrand, sah das Ortsschild – Ferrara. Ich war da, angekommen, blieb kurz stehen, um zu verharren. Der Ort, vor dem ich seit drei Jahren Angst gehabt hatte, dem ich ausgewichen war, mein persönliches Purgatorium. Allein die Erwähnung ließ mich erstarren. Nun hatte ich mich immerhin gestellt, musste allerdings mit den Tränen kämpfen – und, tja, natürlich verlor ich. Sang- und klanglos. War wieder mal Passagier meiner Erinnerungen, der realen, und meiner Fantasien nicht erfüllter Wirklichkeiten. Vielleicht hatte mich mein Navi deshalb eine Extrarunde drehen lassen, diese Konfrontation hinauszögern wollen.

Nicht immer fällt es leicht …

Egal, ich fuhr weiter, hinein in die Stadt, um meinen in Ferrara lebenden Freund Andreas zu treffen. Wir fackelten nicht lange: Es gab ein erstes Bier. Und die nächsten paar Tage dann kein Fahrrad – war auch nicht schlecht –, sondern ein paar Ausflüge in die „colli“, nach Porto Garibaldi und Ravenna.

Allein im Apennin

Nach einem Stopp in Bologna geht es nun rein in den Apennin. Erst- und einmalig ist die Routenwahl misslungen. Ich erwische eine „strada statale“, saueng, viel Verkehr, Gegenwind und bergauf. Zur Krönung ein zwei Kilometer langer Tunnel, für den ich aber immerhin eine Umfahrung finde. Hurra. Heute macht das Radeln überhaupt keinen Spaß. Gegen Ende der Fahrt nach Lizzano in Belvedere erwische ich dann auch noch einen unnötigen Anstieg, der mich eine Zeit lang nervt. Vollkommen erledigt, beziehe ich am Abend schließlich mein Zimmer und schlafe sofort ein.

Das Frühstück am nächsten Tag entschädigt dafür: Der Speisesaal ist diesmal tatsächlich komplett menschenleer. Und ich werde gestreichelt, und zwar von Ennio Morricone höchstpersönlich: Im Hintergrund läuft „Jill’s Theme“. Zufrieden und zuversichtlich trete ich die Weiterreise an: nach Barberino di Mugello, zwei Tage Pause, inklusive Florenz. Dann weiter nach Terranuova Bracciolini. Es ist eine Zeitreise, eine Reise in die Vergangenheit. Mein eigentliches Ziel ist die Geburtsstunde der Renaissance, des Humanismus – in Person von Giovanni Francesco Poggio Bracciolini.

Irgendwo in den Hügeln der Toskana

Auf dem Weg dorthin gibt es zunächst noch eine interessante Zwischenlandung in den Siebzigern. Während ich irgendwo in den Hügeln über Pontassieve eine kurze Rast einlege, läuft, wie aus dem Nichts kommend, ein Jogger an mir vorbei. Kein „blade runner“, sondern ein „porn runner“. Original mit Dauerwellen-Vokuhila, Schnauz, Muskelleiberl und diesen kurzen und engen Sporthosen, wie sie Fußballspieler in den Siebzigern anhatten. „Salve!“ Er ist erstaunlich schnell unterwegs, und zwar so schnell, dass ich ihn auf dem Weg zur Kuppe gar nicht mehr einhole, sondern er mir schon wieder entgegenkommt, als ich noch mitten im Anstieg bin. „Salve!“ Wir werden uns wohl nie wiedersehen. Und das berührt mich in diesem Moment sehr. Da sich beim Radfahren die Zeit schon im Moment des Erlebens dehnt, habe ich das Gefühl, dass wir uns schon lange kennen, wir viel miteinander erlebt haben (wenn auch wohl keine gemeinsamen Filmdrehs dabei waren). Und nun also der Abschied. So belanglos dieses Treffen scheinen mag, so sehr berührt es mich. Seltsam, wie manchmal Gefühle getriggert werden können. Jedoch: Ich fahre – wie immer – weiter.

Ein Humanist und ein dickes Steak

Im kleinen Hotel „Il Piccolo Verde“ in Terranuova Bracciolini angekommen, frage ich gleich die rührige junge Eigentümerin nach Poggio, ob es irgendwo etwas zu sehen gebe. Sie schluckt nervös. Unsicher hake ich nach: „Der Poggio, der hier geboren wurde.“ Sie errötet und gesteht erregt: „Sie sind der erste Gast, der mich jemals nach Poggio gefragt hat.“ Ihre Backen glühen. Die Zeit steht still – und ich starre auf die vielen frischen Kratzer in ihrem Gesicht. Katze? Kind? Satanische Sexualpraktiken? Steht mir etwa auch gleich so eine „Behandlung“ bevor? Gottlob betritt nun ihr Mann mit ihrem kleinen Kind im Arm den Raum. Innerlich atme ich tief durch und auf. Auch sie scheint sich zu beruhigen und erklärt mir, wo ich die große Poggio-Statue finden kann.

Nichts wie hin und gleich eine eigenartige Beobachtung gemacht: Dem guten Mann wurde ein roter Schal um den Hals gewickelt. Natürlich wegen des Fußballs, von den jugendlichen Anhängern des lokalen Vereins. Auch das eine Art spielerischer Wettkampf: In regelmäßigen Abständen befreien die hiesigen Carabinieri den alten Mann vom Ornat, was natürlich den Ehrgeiz der Dorfjugend weckt und zur umgehenden Wiederbeschalung führt. Übrigens kam auch ein großer Fußballspieler aus Terranuova Bracciolini: Spartaco Landini, der im April 2017 dreiundsiebzigjährig verstarb. Das Kicken gelernt hatte er allerdings beim Lokalrivalen AC Sangiovannese, wurde Terranuova Traiana Calcio doch erst 1972 gegründet.

Egal, danach gibt es Steak, und am nächsten Tag geht’s Richtung Caprese Michelangelo und weiter zum Finale.

Addio

Die letzte Etappe ist ein Abschied, eine Verbeugung: vor dem „Piraten“ sowieso, aber auch vor Italien im Ganzen. Und sie ist die einzige, die ich nicht allein bestreite.

„Il Carpegna mi basta!“ (Marco „il pirata“ Pantani)

Gemeinsam mit meinem alten Freund Helfried geht es hinauf auf den Monte Carpegna. Auf den Berg des Unvollendeten, des Verzweifelten, des allzu Menschlichen und noch immer Verehrten – den Berg von Marco Pantani. Unsere Auffahrt, langsam und bedächtig, erinnert mich irgendwie an die Brüder Bobet. Gemeinsam drehten sie noch lange ihre Runden, obwohl der große Champion Louison, bereits schwer gezeichnet und todkrank, von seinem Bruder Jean gestützt werden musste. Und auch bei uns ist das ein gegenseitiges Stützen den Berg hinauf. Ich passe mein Tempo an Helfrieds an, nehme seinen Rucksack, muntere ihn auf und versuche so, Halt zu geben. Aber auch er ist mir mehr Stütze, als er vermutlich ahnt. Ich freue mich, gerade diesen Berg nicht alleine zu befahren. Oben angekommen: ein Moment der Stille, ein Moment der Schönheit. Ciao, Marco! Ciao, Italia!